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Die Mühle am Kehrenbach, oder: Die Legende von Henner, dem Melsunger Bachmüller

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Dr. Hans Jürgen Groß
Zukunft gestalten: WEG- und Wandlungsbegleitung
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Die Mühle am Kehrenbach, oder: Die Legende von Henner, dem Melsunger Bachmüller

Dr. Gross INFO
Der Mensch opfert seine Gesundheit, um Geld zu machen.
Dann opfert er sein Geld, um seine Gesundheit wiederzuerlangen.
Und dann ist er so ängstlich wegen der Zukunft, dass er die Gegenwart nicht genießt.
Das Resultat ist, dass er nicht in der Gegenwart oder in der Zukunft lebt.
Er lebt, als würde er nie sterben.
Und dann stirbt er und hat nie wirklich gelebt.
(Tenzin Gyatso, 14. Dalai Lama)


Es war einst ein Müller namens Heinrich, den alle nur Henner nannten. Seine Mühle stand am murmelnden Kehrenbach, in der Nähe der alten Stadt Melsungen. Dort drehte sich das Mühlrad unermüdlich, und das feine Mehl seiner Mühle erlangte weiten Ruhm. So wie das Rad unaufhörlich kreiste, schuftete Henner Tag und Nacht – gefangen im Rhythmus der Arbeit, als ob darin allein das Versprechen des Lebens lag.

Doch die Mühle gehörte nicht ihm, sondern dem Landesfürsten, dessen Pacht ihm die Bürde des Erfolgs auferlegte. Bereits als Kind hatte er miterlebt, wie ein anderer Müller beinahe alles verlor, weil er den Forderungen des Herrschers nicht nachkam. Diese Erinnerung brannte sich tief in sein Herz ein und wuchs zur Saat einer unstillbaren Angst, die ihm Zuflucht einzig im rastlosen Fleiß versprach. So zählte er Taler um Taler, getäuscht von der Illusion, dass Reichtum die Launen der Macht besänftigen könnte.

Noch bevor das erste Licht des Tages die Felder berührte, eilte Henner zur Mühle. Er prüfte jedes Zahnrad, jedes Korn, als könnte ihm diese Kontrolle fortwährend den drohenden Verlust abwenden. Sein Herz schlug im Takt des Mahlsteins, und das Knirschen des Getreides schien ihm die Melodie der Sicherheit zu liefern.

Nicht weit von ihm arbeiteten in den anderen Mühlen der Stadt Müller, die – obwohl auch sie die Last der Pacht zu tragen hatten – wussten, anders zu leben. Sie schafften sich Zeit, um das Leben zu genießen. Sie vereinten Arbeit und Lachen, aßen gemeinsam Brot und teilten Wein und gaben sich ganz dem Fluss des Lebens hin. Die Weisheit des unaufhörlich drehenden Mühlrads hatte sie gelehrt, dass die vergangene Zeit niemals zurückkehrt.

Henner hingegen lebte in einem Kerker aus Sorge und Misstrauen, den er selbst erbaut hatte. Kein Lachen fand dort Eingang, keine Ruhe durfte verweilen. Den Schlüssel zum Leben trug er bei sich – ohne zu ahnen, dass die Tür längst offenstand.

An einem kalten Novemberabend, als der Nebel den Kehrenbach wie ein stilles Tuch umhüllte, erschien eine alte Frau an der Mühle. In ihren Augen lag die Erinnerung an längst vergangene Herbsttage. Mit einer Hand, die von harter Arbeit zeugte, reichte sie Henner einen kleinen, ledernen Beutel und sprach: „Öffne ihn, wenn du spürst, dass die Zeit dir durch die Finger rinnt und die Angst dir den Atem nimmt. Vielleicht enthüllt er dir das, was im Rausch flüchtiger Sicherheiten verloren ging.“

Henner ergriff den Beutel hastig – nicht aus Neugier, sondern getrieben von dem Wunsch, der seltsamen Erscheinung zu entkommen. So fand der Beutel seinen Platz in einer verstaubten Ecke, unbeachtet, während draußen das Leben in stetigem Fluss an ihm vorbeizog.

Jahre vergingen. Der Schnee schmolz, der Bach trug Blüten davon, doch Henners Angst hielt ihn gefangen. Manchmal meinte er, im Plätschern des Bachs die Stimme der Alten zu hören: „Henner, öffne den Beutel, ehe deine Zeit verrinnt!“ Doch er verjagte diese Worte wie lästige Fliegen und kehrte zurück zu den Mahlsteinen – getrieben von der Furcht, auch nur einen Augenblick zu verlieren.

Mit jeder Umdrehung des Mühlrads schloss sich der Panzer um sein Herz immer fester, bis ihn eines Tages die Kraft verließ. Gebeugt und zitternd sank er zu Boden. Da erinnerte er sich an den Beutel. Mit unsicheren Fingern riss er das Leder auf – und fand nur ein einziges, verwelktes Blatt. In diesem Moment durchzuckte ihn die Erkenntnis: Alles, wovor er sich gefürchtet hatte, war längst geschehen. Nicht die Armut hatte ihn besiegt, sondern das Leben selbst, das er im ständigen Kampf gegen den Verlust nie gelebt hatte.
In jener Nacht schlief Henner ein und wachte nicht mehr auf.

Das Mühlrad jedoch drehte sich weiter, angetrieben vom Bach – ohne je Mühe zu kennen. Müller kamen und gingen, lachten und weinten, doch nie wieder wurde jemand so sehr vom Takt der Arbeit gefangen wie Henner, der Bachmüller von Melsungen.

Und noch heute erzählt man sich, dass dort, wo sich der Kehrenbach hinter der alten Mühle in die Fulda ergießt, ein geheimnisvolles Raunen im Wasser liegt. Wer genau hinhört, mag die leise Stimme der alten Frau vernehmen, die sich mit dem Rauschen des Stroms zu einer Melodie vereint: „Sieh, Henner, wie der Bach mutig dem Weiten entgegen fließt. Er fürchtet nicht das Ende seiner Bahn, denn er wird ein Teil von etwas Größerem – so wie der Mensch, der lernt, seine Ängste im Strom des Lebens davon zu spülen. Lass deine Last fallen, ehe sie dich in dunkle Tiefen hinabzieht.“

Mancher Überlieferung zufolge wandelt Henners Geist noch immer am Ufer der Fulda, als suche er den Beutel, den er zu spät öffnete. Doch wer still den Wellen lauscht, vernimmt die Wahrheit, die der Strom verkündet: Alles Fließende findet seine Bestimmung im Loslassen – nicht im Festhalten.
© 2025 - Hans Jürgen Groß

Hinweis: Diese Erzählung ist frei erfunden und erhebt keinen Anspruch auf historische Genauigkeit oder tatsächlich stattgefundene Ereignisse. Sie dient der Unterhaltung und soll die Fantasie anregen.

Der Text ist Bestandteil meines Seminars: Achtsamkeit und Resilienz.

Weitere Informationen und Hintergründe unter:  





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