Eva: Es geschah an einem Freitag in Gensungen (eine Leidensgeschichte)
Veröffentlicht von Hans Jürgen Groß in Sinnhaftes und Geschichten · Donnerstag 17 Apr 2025 · 9:00
Tags: Felsberg, Gensungen, Melsunger, Land, Kindsmord, Kindsmörderin, patriarchale, Gewalt, weibliche, Ohnmacht, gesellschaftliche, Ausgrenzung, Scheinmoral, Doppelmoral, Armut, Abhängigkeit, Missbrauch, Macht, Folter, öffentliche, Hinrichtung, (Un, )Gerechtigkeit, 17., Jahrhundert, Stigmatisierung, uneheliche, Mutterschaft, Kirche, Obrigkeit, Gericht, Todesurteil, Schuld, Scham, kollektives, Schweigen, Gerechtigkeit, Missbrauch, Misshandlung, Demütigung, Galgenberg, Heldenhügel, Ehrenmal, Passion, Leid, Passionsgeschichte, Leidensgeschichte, Karfreitag, Eva
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„Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet“
Heinrich Böll (Die Waage der Baleks)
Die Schläge hallen laut durch das kalte Kirchengewölbe. Gehetzte Lichter flackern; ihr Rauch frisst sich in den eisigen Geruch von Blut und Angst. Auf dem Boden krampft Eva, siebzehn Jahre alt, ein Bündel im zerrissenen Kleid aus grobem Leinen. Der Richter hebt erneut die Hand zur Ruhe. „Gestehe, Weib!“, dröhnt es, während die Menge in den Bänken murmelt – verschränkte Arme, versteinerte Blicke. An der Pforte hockt der Büttel (1), die Pfennige für den Galgenberg schon in der Hand. Es ist ein kalter März-Freitag im Jahre des Herrn 1693.
Der eindringliche Klang eines weiteren Schlages zerreißt die Stille.
Die Dunkelheit. Süß wie Zucker umfing sie mich, trug fort von Händen, Blicken, Schmerz. Doch immer wieder rissen sie mich zurück in diesen Albtraum.
Ein Schrei, ein Aufbäumen, als ein weiterer Schlag Eva trifft.
Ich war einmal ein Mädchen mit blumengeflochtenen Zöpfen, barfuß im Schlamm der Eder. Die Jungen warfen Steine, aber nicht nach mir – sie lachten meinem Gesang entgegen. Da trugen Männerblicke noch Sonne, keine gierigen Schatten. Damals, als Mutter noch lachte, bevor die Geburt des dritten Kindes sie schwächte und schließlich nahm. Sie hatte dem Pfarrer so treu gedient als Magd in seinem Hof. - Wann wurde ich zur Beute?
Ein weiterer Schmerzensschrei durchdringt den Raum.
Seine Hand auf meinem Arm beim Ährenbinden auf den Feldern des Pfarrers. Seit Mutters Tod lag die Verantwortung für meine kleine Schwester auf meinen Schultern. Vater ertrug den Verlust nicht. Der Kummer trieb den einst so geschickten Zimmermann zum Trunk, bis auch er uns verließ. Nun waren wir Waisen, abhängig von der Gnade des Pfarrers und der harten Arbeit auf seinem Hof. Der Knecht… „Zart wie Milchhaut“, hauchte er, und ich errötete – unwissend, dass dies die erste Schlinge war. Dann die Nächte im Heuschober, sein Atem, Bier. Schweiß und Macht. „Ein Wort, und ich zeig dich als Hure an.“ Der Schmerz war weniger als das Schweigen danach. Und jetzt dies. Diese wachsende Last in meinem Leib. Wehe dem Tag, an dem der Pfarrer es bemerkt. Mägde wie ich, mit unehelichem Kind, werden vom Hof gejagt, verstoßen. Was bliebe mir dann? Kälte, Hunger, Schande. Für mich und mein Kind.
„Genug!“, ruft der Richter. Eiswasser trifft Evas Gesicht. Sie keucht, krümmt sich, der Blick irrt zum Kreuz auf dem Altar.
„Ich … gestehe …“, krächzt sie. Die Worte zerreißen ihre Kehle. Ein Seufzen geht durch die Kirche. Na also, denkt der Schmied in der dritten Reihe, Brot kauend. Der Schreiber kritzelt: „Anno 1693, das Weib Eva, des Kindsmords überführt …“
Sie wollen kein Geständnis. Mein Fleisch ist ihr Begehr.
Hände reißen mir das Kleid vom Leib. Kalte Luft auf nackter Haut. Männeraugen saugen, lüstern mein Fleisch.
„Das weiße Gewand der Buße!“, schreit jemand. Ein durchsichtiges Leinentuch wird ihr umgehängt.
„Bekenne vor Gott deine Sünde“, fordert der Pfarrer.
Das Kind. Ein Schmetterling in der Faust. Doch als die Wehen kamen, im Schweinestall des Pfarrhofs, allein mit Ratten und im Stöhnen, war der Schmetterling still. War es tot? Ohrfeige mich, Gott, wenn ich lüge – ich weiß es nicht mehr. Nur blaue Zehen wie Winterhimmel.
Die Stille des Morgens war trügerisch. Irgendjemand hatte meine einsame Verzweiflung gehört, meine heimliche Niederkunft bemerkt. Wer hatte die kalten Augen der Obrigkeit auf mich gelenkt? Wer hatte aus meiner Not ein Verbrechen gesponnen? Der Knecht, dessen schändliche Berührung diese Frucht getragen hatte? Oder eine der anderen Mägde, deren Neid wie Gift in den Mauern des Hofes kroch? Die Angst war ein eisiger Griff um meine Kehle, schlimmer als jeder Schmerz der Geburt.
„Seht die Sünderin!“, donnert der Pfarrer und reißt das Tuch herab. Evas Körper, von Schlägen gezeichnet, zuckend im Altarkerzenlicht. Ein Junge lacht, bis die Mutter ihm den Mund zuhält. Die Richterhand taucht in Salz. Höllenregen auf Evas Wunden. „Damit die Seele rein brennt!“
Salz in den Wunden. Salz auf der Zunge. Mutter, du hast gewarnt.
„Ein Mädchen ist wie Milch“, sagte sie. „Stell sie in die Sonne, und sie wird sauer.“ Sie starb, als ich zwölf war – an einem Kind, anders als meins: gewollt, geliebt, begraben. Vater folgte ihr bald, die Trauer und der Schnaps hatten ihn schneller zermürbt als das härteste Holz seiner Werkstatt.
Und wieder ein Schlag, der die Dunkelheit verwehrt.
Nicht wieder. Bitte – Dunkelheit.
Doch da war sein Gesicht, der Knecht, jetzt hinten in der Kirche, verschränkte Arme, keine Regung, keine Scham.
Warum bin ich die Hexe, während er so zufrieden schaut?
„Zur Richtstatt!“, brüllt der Büttel.
Der von Ochsen gezogene Leiterwagen holpert über das Pflaster, seine Räder quietschen wie höhnisches Gelächter. Eva, auf dem Wagen, die Arme an einen Balken geschnürt, das Bußgewand durchweicht von Blut, Schweiß und Urin. Der Pfarrer schreitet vor dem Zug, betend. „Seht, die Mörderin!“, kreischt eine Marktfrau, faules Obst fliegt. Eine Birne trifft Evas Schläfe, ihr Kopf schlägt gegen das Holz.
Der Karren schwankt – wie einst der Kahn auf der Eder, als alles noch Spiel war.… Mutter lacht, ein Hut fliegt, ich greife, kippe fast …
Ein fauler Apfel trifft ihren Mund. Schock, Schmerz – faulige Süße, salzig wie Schuld. Nein, nicht die Eder. Der Karren. Der Galgen. Augen zu.
Verschwinde. Zersplittere. Staub.
Durch das Dorf zieht die Prozession pervertierter Frömmigkeit. An der Opperecke drängen sich Menschen um den Opferkasten. „Zwei Pfennige für den Blick ins Höllenfeuer!“, grölt der Büttel. Kinder heben Schürzen für die geworfenen Münzen.
Seine Hände. Im Heu. Sonne durch Schoberritzen, sein Atem saures Bier. „Still, sonst schrei’ ich's vom Kirchturm!“ Heu stach meinen Rücken. Kuhmuhen. Dann das Knirschen, zerrissener Rock – nicht Karrenholz, nicht Fesseln, nicht jetzt, nicht hier.
Ein Stein trifft ihr Knie. Der Folterknecht packt ihr Kinn. „Augen auf, Hure! Genieß deine letzte Reise!“
Je höher der Wagen steigt, desto wilder das Volk. Frauen reißen ihre Haare, werfen sie Eva entgegen – „Für die Hölle, Hexe!“ Männer schreien Obszönitäten, die den Büttel erröten lassen. Auf einem Basaltblock sitzend, isst der Scharfrichter Wurst, sein Gehilfe reibt den Strick mit Wachs. „Schneller!“, brüllt er, den Mund voll Essen, „die Sau soll zucken für die Krähen!“
Grün. Wiesengras unter nackten Füßen. Marie, kleine Schwester, pflückt Gänseblümchen, flicht sie ein. „Eva mit den Apfelblüten“, lacht sie. Glockenklang.
Warum verstummt das Läuten?
RUCK.
Der Wagen hält. Stille. Dann Strickknarren im Wind.
Ah, die Schaukel. Am Fluss. Mutter schiebt, höher, höher … bevor das Schicksal uns auseinanderriss und meine kleine Schwester und mich allein zurückließ.
„RUNTER MIT DEM KLEID!“, schreit das Volk. Hände zerren das letzte Tuch vom Leib. Kalt. So kalt.
Eva steht nackt, ihr Körper eine Karte des Leids von Männern beschrieben. – Streifen, Narben, Blutrinnen. Die Menge verstummt. Selbst Raben innehalten. Nur Wind pfeift um Basalt, als der Henker ihr den Strick umlegt. „Letzte Worte?“, faucht er.
Mutter. Das Kind. Sein Gesicht, lavendelblau im Mondlicht.
Sie öffnet den Mund. Spricht nicht. Ist leer, so leer.
Der Henker zieht am Strick. Ein Ruck – die Kehle krampft, die Luft wird knapp. Sie ringt nach Atem, stößt ins Leere.
Ein Zucken – dann senkt sich die Dämmerung über ihre Sinne.
Die Dunkelheit kommt sanft. Wie ein Fluss, der Wunden wegspült, trägt sie sie davon. Irgendwo in der Schwärze lächelt ein Kind.
Warme Hände, sternenklare Augen.
„Mama“, flüstert es, „Du hast mich doch nicht vergessen?“
Sie will antworten – doch der Strick würgt selbst ihre Träume.
Dann – ein Geschenk. Noch einmal hier. Der grobe Folterknecht zieht am Seil. Langsam, grausam, gnädig. Gerade so, dass ihr Blick noch einmal über das Tal gleitet: grüne Wiesen. Die alte Burg. Die Eder – ein Silberband. Rauch über Höfen, wo Frauen schuften, die morgen an ihrer Stelle hängen könnten. Ein letztes Einatmen – Harz. Angstschweiß. Der Duft des nahen Frühlings.
Es ist vollbracht. Der letzte Hauch, der ihr entfährt, steigt auf, gleich einem unsichtbaren Nebel. Legt sich auf Pflanzen, die künftig bitter schmecken. Mischt sich mit Wasser, das Kinder beim Trinken schaudern lässt. Dringt in die Häuser, haftet an Kleidern und Wiegen, sät Albträume in Kissen der Schweigenden. Doch die Menschen atmen ihn ein – und spüren nichts. Nur Hunde heulen in jener Nacht, als Evas Geist über die Dächer streicht – nicht Rache, nicht Fluch. Nur eine Frage.
Am Rand des Platzes, hinter dem Schandpfahl, kauert eine verschleierte Gestalt: Marie, Evas Schwester, gebeugt. Ihr Schluchzen vergeht im Lärm der Gaffenden.
Als Evas Körper still ausschwingt, verläuft sich die Menge. Der Schmied diskutiert mit dem Bäcker, Kinder stehlen die Wurst des Henkers, der Krämer flüstert seiner Magd zu: „Geh nicht ihre Wege.“
Nur Raben bleiben. Warten bis zur Dämmerung. Dann stoßen sie herab – schwarz wie die Tinte auf dem Urteil. Drei Tage später findet der Müller der ihre Leiche am Berg verscharrt, zwischen Evas Fingern eine verwelkte Kornblume. Woher diese einzelne, blaue Blüte kommt, die der kalte Märzboden bislang nicht hervorgebracht hat, bleibt ein Rätsel. Vielleicht die stumme Erinnerung an einen Sommer, der ihr genommen worden ist, ein Farbtupfer der Unschuld in den Fängen des Todes.
Im Laufe der Jahrzehnte verblasst die Erinnerung an Eva. Der Galgen verfällt, und später errichtet man an seiner Stelle ein Denkmal – nicht für sie. Der Hügel sollte fortan den Namen Heldenhügel tragen, eine Ehrung der jungen Männer, die in den Kriegen der Mächtigen ihr Leben ließen. Man preist ihren Tod als Heldentum, doch ähnelt ihr Schicksal dem Evas: verführt, benutzt und ihr Leben willentlich geopfert.
Kein Name, keine Tafel für die Frau, die an einem kalten Märztag als Kindsmörderin ihr Ende fand. Ein Schicksal vieler Frauen – Eva, eine von ihnen, kroch blutigen Fußes, gebrochen über den Basalt des Lebens. Ihr letzter Seufzer verfing sich im kalten Wind des Vorfrühlings, der über die kargen Felder zog, stumm wie die Erde, die ihre Geschichte barg.
ANMERKUNG
Die geschilderte Handlung ist ein fiktionales Werk, inspiriert von einem historischen Ereignis. Im Jahr 1693 wurde am Galgenberg bei Gensungen die letzte dokumentierte Hinrichtung einer Frau wegen Kindsmord vollzogen. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten und Orten sind daher nicht auszuschließen.
© Karfreitag 2025 - Hans Jürgen Groß