Zwischen Licht und Schatten: Auf dem Pfad der Wahrhaftigkeit (Das Höhlengleichnis 2.0)

Dr. Hans Jürgen Groß
Zukunft gestalten: WEG- und Wandlungsbegleitung
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Zwischen Licht und Schatten: Auf dem Pfad der Wahrhaftigkeit (Das Höhlengleichnis 2.0)

Dr. Gross INFO
(...) Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. (...)

Aus dem Gedicht "Stufen" von Hermann Hesse


Schwer atmend durchquerte die Frau den engen, schwach erleuchteten Gang und kämpfte sich ins Freie. Ein blendendes Strahlen empfing sie in dieser fremden Umgebung, und sie blieb stehen, um ihre Augen vor der Helligkeit zu schützen. Die kühle Luft schmiegte sich an ihre Haut, und in der Ferne hörte sie das leise Flüstern des Wassers. Alles schien lebendig, und dennoch blieb es ein Geheimnis – eine Welt, die zu klingen begann, ohne dass sie die Sprache verstand.

Sie trug die Schatten der Höhle in sich, von der sie entflohen war, unauslöschlich wie ein Traum, der die Morgenstunden berührt. Jene Schatten – Lehrmeister und Begleiter – hatten Bilder gezeichnet, die wie Geschichten wirkten, Erzählungen, die sie als Wahrheit akzeptiert hatte. Nun aber, im Angesicht dieser vibrierenden, leuchtenden Welt, begann sie zu begreifen: Die Schatten waren nur Spiegelungen gewesen, Verzerrungen dessen, was sich in ihrer Dunkelheit verbarg. Und doch war die Höhle nicht bloß Illusion, sondern Ursprung und Prägung – ein Teil von ihr, den sie nicht abschütteln konnte.

Die Neue Welt, die sie jetzt umgab, war ein verwirrend-schönes Labyrinth aus Farben, Formen, Stimmen und Geräuschen. Alles war lebendig, vibrierte vor Bedeutung, die sich ihrer Erkenntnis entzog. Alles fühlte sich unbekannt, neu an, als ob sie gerade erst geboren worden wäre. Die Eindrücke – das Fühlen, Riechen, Schmecken, Sehen und Hören – waren so intensiv und überwältigend, dass sie sich verloren fühlte. Sie musste erst die Sprache der Menschen vor Ort lernen, um diese Welt zu verstehen.

Die Menschen traten zu ihr, zeigten ihr Dinge und gaben ihnen Namen. „Das ist ein Baum“, sagten sie, da sah sie verzweigte Linien, grüne Blätter, die im Wind tanzten. „Das ist der Himmel“, erklärten sie, und sie hob den Blick, um die unendliche Weite zu erfassen. „Dies ist gut, jenes ist schlecht“, so teilten sie ihre Erfahrungen mit ihr.

Ein innerer Zwiespalt zerriss sie, wie ein Seil, das auf Spannung gezogen wird. Die Geschichten der Schattenwelt und die Offenbarungen des Lichts widersprachen einander und zugleich ergänzten sie sich. Getrieben von einem drängenden Verlangen nach der Sicherheit des Bekannten, beschloss sie, zurückzukehren. Zurück in die Höhle, zurück zu jenen, die in der Dunkelheit lebten.

Doch als sie erneut die Dunkelheit durchschritt, überkam sie ein kaltes Schaudern. Die Schatten, einst vertraut, schienen nun fremd und bedrohlich. Sie hörte die alten Geschichten, die ihr einst Trost spendeten, doch sie wirkten leer und bedeutungslos. "Wie hatte sie diese Schatten je für die Wirklichkeit halten können?", fragte sie sich.

Ihre Worte vom Licht, die sie an die Höhlenbewohner richtete, von Formen und Farben wurden mit tauben Ohren bedacht. Die anderen wandten sich ab, lachten oder schwiegen sie nieder. „Du bist verwirrt“, sagten sie, „was du erzählst, ist unmöglich.“ Ihre Worte trafen auf Widerstand, nicht auf Neugier. Und je mehr sie versuchte, die anderen zu überzeugen, desto mehr Gegenwehr erfuhr sie. Einige wurden sogar feindselig und warnten sie, den Mund zu halten. „Du bringst Unruhe“, flüsterten sie. „Lass uns in Frieden.“

Doch auch sie selbst begann zu zweifeln: Hätte sie sich nicht selbst, als sie Teil der Höhle war, ebenso verhalten? War das Licht, von dem sie überschwänglich berichtete, eine Befreiung – oder nur eine andere Art von Gefangenschaft?

Sie erkannte, dass die anderen in der Höhle ihren eigenen Weg gehen mussten. Keine Worte konnten sie zwingen, das Licht zu sehen – sie mussten es selbst entdecken. Sie konnte nicht bleiben, die Höhle war nicht länger ihr Zuhause. Zurück in der Neuen Welt richtete sie ihren Blick nach vorn. War dies nun die wahre Welt? Oder gab es noch weitere Ebenen? Vielleicht lag die einzig reale Wirklichkeit nicht hier, nicht dort, sondern jenseits des Lichts und der Schatten. Sie war entschlossen, weiterzusuchen. Sie ahnte, dass jenseits dieser Stufe das Kind wartete – ein Symbol für die Freiheit, für die Offenheit, für die unberührte Kreativität, die sie nur durch das Weitergehen erreichen konnte.

Unsere Welt bleibt ein Labyrinth aus Spiegeln und Deutungen. Unsere Sinne malen die Bilder, und unser Geist formt daraus Geschichten. Doch wenn der Spiegel bricht, bleibt die Frage: Was liegt jenseits der Bilder? Vielleicht liegt die größte Angst nicht in der Dunkelheit, sondern in dem, was das Licht enthüllt – der Erkenntnis, dass wir niemals ankommen, sondern immer nur suchen. Wir sind Wanderer, schwebend zwischen Schatten und Licht, zwischen dem, was wir glauben, und dem, was wir niemals wissen werden. Der Wunsch nach der einzig realen Wirklichkeit treibt uns weiter voran, stets auf der Suche nach der nächsten Ebene in diesem endlosen Kosmos.

© 2025 - Hans Jürgen Groß


Anmerkung:

Dieser Text ist Bestandteil meiner Seminarreihe "Achtsamkeit und Resilienz" welche ich im Jahr 2020 entwickelt habe und seitdem ständig pflege. Die Erzählung "zwischen Licht und Schatten", aus dem Jahr 2025 ersetzt innerhalb der Seminarreihe das Höhlengleichnis von Platon, welches ursprünglich an ihrer Stelle stand. Siehe auch: https://tinyurl.com/223af7bc

Weitere Informationen zum Text gibt es unter: + + + https://t1p.de/licht-schatten + + +



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