Vom Geheimnis der Gelassenheit, oder: Der alte Mann und sein Pferd
Veröffentlicht von Hans Jürgen Groß in Sinnhaftes und Geschichten · Donnerstag 05 Dez 2024 · 5:45
Tags: Lebensweisheit, Geschichte, Philosophie, Weisheit, Selbstreflexion, Geduld, Veränderung, Schicksal, Motivation, Inspiration, Gelassenheit, Glück, Biografiearbeit, Resilienz, Lerngeschichte, Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker, Phlegmatiker, Temperamente, Entsprechungen, Persönlichkeitsmodell
Tags: Lebensweisheit, Geschichte, Philosophie, Weisheit, Selbstreflexion, Geduld, Veränderung, Schicksal, Motivation, Inspiration, Gelassenheit, Glück, Biografiearbeit, Resilienz, Lerngeschichte, Choleriker, Melancholiker, Sanguiniker, Phlegmatiker, Temperamente, Entsprechungen, Persönlichkeitsmodell
Denke daran, dass etwas, was du nicht bekommst,
manchmal eine wunderbare Fügung des
Schicksals sein kann.
Tenzin Gyatso, 14. Dalai Lama
Am Rande einer kleinen Stadt lebte einst ein alter Mann mit seinem Sohn. Der Alte war für seine Besonnenheit und innere Ruhe bekannt, eine Gelassenheit, die sich über die Jahre in ihn vertieft hatte. Er besaß ein wunderschönes Pferd, dessen glänzendes schwarzes Fell weithin Bewunderung erregte. Die Menschen in der kleinen Stadt und weit darüber hinaus sprachen über dieses bemerkenswerte Tier, dem außergewöhnliche Eigenschaften nachgesagt wurden.
Eines Tages schickte der Landgraf einen Boten zu dem alten Mann, um nach dem Pferd zu fragen, da dieser es erwerben wollte. Der alte Mann hieß den Boten freundlich in seinem Heim willkommen, bot ihm Wasser und Speise an, wissend um die lange Reise, die dieser hinter sich gebracht hatte. „Bestellt eurem Herrn die Grüße seines Untertans“, sprach der Alte mit sanfter Stimme. „Und sagt ihm, dass ich mich geehrt fühle, dass er mein Pferd kaufen will. Doch das Pferd ist mein Freund, und unsere Seelen sind verbunden. Wie könnte man einen Freund verkaufen? Teilt eurem Herrn mit, dass es mir leidtut, doch niemand kann dieses Pferd erwerben.“
Der Bote nickte verständnisvoll und ritt davon. Zwei Wochen später verschwand das Pferd des alten Mannes auf unerklärliche Weise. Als die Stadtbewohner davon hörten, entsandten sie einen Abgesandten, einen Mann mit unruhigen Augen und hektischen Bewegungen. „Oh alter Mann, welch großes Unglück! Wie konntest du das Angebot des Landgrafen ablehnen? Nun hast du weder Pferd noch Geld!“, rief er. „Du Narr! Deine Sturheit wird dich noch ins Verderben stürzen!“
Der alte Mann lächelte sanft, erkannte die Angst des Mannes vor dem Kontrollverlust und sagte: „Du fürchtest die Unsicherheit, die der Verlust mit sich bringt. Doch manchmal liegt gerade in der Veränderung eine tiefere Wahrheit. Mein Freund, das Pferd, ist verschwunden, doch das bedeutet nicht zwangsläufig Unglück.“ Der Mann, voller Zorn, der seine Angst verbarg, schnaubte und riet: „Du solltest sofort alle Männer mobilisieren, um das Pferd zu suchen! Zeige Entschlossenheit und handle, bevor es zu spät ist!“ Der alte Mann bedankte sich freundlich, blieb bei seiner Gelassenheit.
Weitere zwei Wochen vergingen, als das Pferd des alten Mannes zurückkehrte, gefolgt von dreißig prächtigen Wildpferden, die sich wie freie Geister in seinem Gehöft niederließen. Er ließ im ganzen Land verkünden, ob jemand Anspruch auf die Pferde erhebe. Da sich nach zwei Monaten niemand meldete, erklärte er sie zu seinem Eigentum. Als die Stadtbewohner von dem ungewöhnlichen Reichtum hörten, entsandten sie eine Abgesandte, eine Frau mit sorgenvollen Augen und einem zurückgezogenen Wesen. Sie sollte den Alten mahnen, nicht übermütig zu werden. „Oh alter Mann, welch ein Glück ist dir widerfahren!“, flüsterte sie. „Doch Glück kann ebenso vergänglich sein wie Unglück.“
Der Alte nickte, erkannte die Angst der Frau vor der Veränderung, und sagte: „Du siehst das Zerbrechliche in allem und fürchtest den Verlust des Gewohnten. Doch im ständigen Wandel der Dinge liegt auch die Chance für Neues. Mein Freund, das Pferd, ist zurückgekehrt, und doch bleibt das Leben in seiner Essenz unverändert.“ Die Frau, gefangen in ihrer Angst vor dem Unbekannten, seufzte und riet: „Du solltest die Wildpferde sofort verkaufen und das Geld sicher verwahren. So schützt du dich vor künftigen Verlusten.“ Der alte Mann lächelte und bedankte sich freundlich, blieb in seiner Gelassenheit.
In den folgenden Wochen zähmte der Sohn des alten Mannes die Pferde. Eines schönen Morgens wurde der junge Mann von einem der Wildpferde abgeworfen und gegen die Wand der Scheune geschleudert. Dabei brach er sich beide Beine. Wieder entsandten die Stadtbewohner eine Abgesandte, eine sprachlich gewandte Frau, die stets Optimismus und Fröhlichkeit versprühte. „Oh alter Mann, es ist ein großes Unglück, das dir und deinem Sohn widerfahren ist!“, rief sie. „Nun siehst du, wie schnell sich das Schicksal wenden kann.“
Der Alte lächelte weise, erkannte die Angst seiner Besucherin vor Ablehnung und Einsamkeit, und sagte: „Du suchst stets das Licht, die Gesellschaft, die Leichtigkeit und das Dunkle und Einsame ängstigt dich. Doch das Leben ist mehr als Freude und Gemeinschaft, es ist auch die Stille, aus der alles entsteht. Mein Sohn ist vom Pferd gefallen und hat sich die Beine gebrochen, doch auch dies ist Teil des großen Ganzen.“ Die Frau, die ihre Angst vor Ablehnung und Einsamkeit stets hinter einem fröhlichen Lächeln verbarg, schüttelte den Kopf und riet: „Du solltest Freunde einladen und eine Feier veranstalten, um deinen Sohn aufzumuntern und die düsteren Gedanken zu vertreiben.“ Der alte Mann bedankte sich freundlich, blieb jedoch bei seiner Gelassenheit.
Dann brach ein Krieg über das Land herein. Der Landgraf rekrutierte alle jungen Männer für seine Armee. Als die Stadtbewohner erfuhren, dass wohl die meisten ihrer Söhne nicht wiederkehren würden, entsandten sie einen letzten Abgesandten, einen stillen, nachdenklichen Mann. „Oh alter Mann, du hattest recht. Es war kein Unglück, das deinem Sohn widerfahren ist. Es war ein großes Glück. Denn obwohl Dein Sohn nun nicht mehr richtig laufen kann, lebt er, während unsere Söhne im Kriege gefallen sind oder schweren Schaden genommen haben.“
Der alte Mann nickte, erkannte die Angst seines Besuchers vor Veränderung und Verlust von Sicherheit, und sagte: „Es ist entsetzlich, was euch und euren Söhnen geschehen ist. Ihr habt mein volles Mitgefühl. Du aber suchst die Beständigkeit und fürchtest das Auf und Ab des Lebens. Doch das Leben ist wie die Gezeiten des Meeres, ein ständiges Wechselspiel von Leid und Freude. Wir kennen nicht die ganze Geschichte, können nicht das große Ganze verstehen.“ Der Besucher, in seiner Ruhe und Bedächtigkeit, riet: „Du solltest Pläne für die Zukunft schmieden und Sicherheitsvorkehrungen treffen, um gegen kommende Unsicherheiten gewappnet zu sein.“ Der alte Mann lächelte, bedankte sich freundlich und blieb in seiner Gelassenheit.
Und so verharrte der alte Mann in seiner Weisheit, inneren Ruhe und Gelassenheit, unbeeinflusst von den Launen des Schicksals und den Ängsten der Menschen um ihn herum. Er wusste, dass das Leben im Fluss war, im ständigen Wechselspiel der sich entgegenstehenden Pole, das nur durch Einsicht und innere Ruhe überwunden werden konnte. Seine Worte hallten wider, wie ein leises Mantra: „Wir kennen nicht die ganze Geschichte.“
© 2024 - Hans Jürgen Groß