Die Schlüsselfrau zu Felsberg
Veröffentlicht von Hans Jürgen Groß in Sinnhaftes und Geschichten · Donnerstag 05 Dez 2024 · 4:15
Tags: Felsberg, Felsburg, Melsunger, Land, Burgruine, Schlüsselfrau, Macht, Reichtum, Neubeginn, Legende, Weisheit, Wandel, Wandlung, Beständigkeit, Neujahrsnacht, Neujahr, Neubeginn, Anhaftung, Loslassen
Tags: Felsberg, Felsburg, Melsunger, Land, Burgruine, Schlüsselfrau, Macht, Reichtum, Neubeginn, Legende, Weisheit, Wandel, Wandlung, Beständigkeit, Neujahrsnacht, Neujahr, Neubeginn, Anhaftung, Loslassen
Altes muss vergehen, damit Neues entstehen kann.
Wenn du lernst, freiwillig und angstfrei loszulassen,
kann deine Befreiung ekstatisch und die Geburt des
Neuen voller Freude sein.
Gerd. B. Ziegler „XIII Der Tod – Crowley Tarot“
Hoch oben, wo der Wind die Melodien der Zeit singt und der Basaltkegel den Himmel berührt, thront die Burgruine der Felsburg wie ein uraltes Gemälde, in dessen Schatten Geschichte und Geheimnis zu einem undurchdringlichen Geflecht verwoben sind.
Einst, so erzählen die Alten, lebte dort eine edle Dame, deren unermesslicher Schatz gleichermaßen Begehrlichkeit und Ehrfurcht in den Herzen der Sterblichen weckte. Sie fiel aus der Zeit, da sie die Schlüssel zu Macht und Reichtum, aber auch zu den Herzen der Menschen besaß. Ein unerschütterlicher Glaube, der trotz der Wandlungen des Landes bestehen blieb, haftete ihr an. Sie verbrachte viele Jahre in ihrer prächtigen Residenz, die sie zu ihrem Witwensitz erklärt hatte. Während dieser Zeit verhalf sie der kleinen Stadt zu einem Licht, das nach ihrer Abkehr für immer erlosch.
Und wieder sang der Wind sein Lied, verwebte Vergangenes mit dem Kommenden, flocht Bekanntes und Unbekanntes hinzu. Wirklichkeit vermischt mit alten Sagen ließen aus der edlen Dame die mystische Gestalt der weißen Schlüsselfrau werden. Die Menschen des kleinen Städtchens Felsberg im Edertal sprechen noch heute ehrfürchtig von dieser mystischen Person, die in jeder Neujahrsnacht am Schlossberg erscheinen soll.
Wenn das alte Jahr in die Tiefen der Zeit hinabgleitet und das neue Jahr wie ein zartes Licht emporsteigt, erheben sich die Schatten des untergegangenen Schlosses, und die Schlüsselfrau ruft mit stillem Winken jene, die bereit sind, sich ihrem Schicksal zu stellen. In jener magischen Nacht, da der Schleier zwischen den Welten dünn wie Spinnweben wird, öffnet sie die Pforte zu einem Neubeginn.
Es wird gemunkelt, dass die Schlüsselfrau verzaubert und gefangen in einem ewigen Kreislauf sei. Gebunden an die Ruinen des alten Schlosses wurde sie zur Wächterin der Schwelle zwischen den Welten, dazu verdammt, solange umherzuwandeln, bis jemand den wahren Schatz, die Weisheit des Neubeginns, zu erkennen vermag.
Einst gab es einen Mann in der Stadt, den das Winken der weißen Gestalt am Berg wie ein unsichtbarer Ruf zur Burgruine lockte. Die Jahre hatten ihm viele Narben ins Herz gegraben. In jener Neujahrsnacht, während die Stadt unter einem Tuch aus glitzerndem Frost schlief, stieg er den steilen Pfad hinauf, dem stillen Winken der Schlüsselfrau folgend.
Ihre Gestalt schien im Nebel zu verschwimmen, doch ihre Präsenz wärmte sein Herz, wie es keine Flamme vermocht hätte. Im verfallenen Turm, wo die Schatten der Vergangenheit mit den Sternenlichtsplittern der Gegenwart tanzten, führte ihn die Schlüsselfrau hinab in die unterirdischen Hallen des Schlosses. Dort offenbarte sich ihm ein Anblick von unermesslicher Schönheit: goldene Schätze, die wie gefrorenes Sonnenlicht leuchteten, und eine weiße Rose, die in einem Strahlen von Reinheit erblühte, wie ein Versprechen des Neuanfangs.
„Wähle mit Bedacht“, sprach die Schlüsselfrau mit einer Stimme, die wie das Flüstern des Windes durch uralte Eichen klang. Der Mann, geblendet von dem Reichtum, streckte die Hand nach dem Golde aus. Doch in dem Moment, da seine Finger das glitzernde Metall berührten, zerbrach der Traum wie eine Seifenblase, und er fand sich in Dunkelheit gehüllt. Ein eisiger Hauch umklammerte ihn, und als er erwachte, lag er allein am Abhang des Schlossbergs, ohne Schatz und ohne Hoffnung.
Der Schrecken, den das Erlebte hinterließ, brannte sich tief in seine Seele und ließ ihn erkranken. Doch mit der Zeit keimte in ihm eine Erkenntnis: Das Gold, das Vermächtnis vergangener Taten und Zeiten, das er festzuhalten, zu besitzen trachtete, war der Ursprung seines Leids. Er beschloss, das Wenige, was ihm geblieben war, dem Leben zu schenken.
Mit seinem verbliebenen Vermögen stiftete er Land der Kirche, damit dort für die Armen neues Leben wurzeln konnte, und zog sich in die Stille zurück. Die Erzählung der Alten besagt, dass er in seinem letzten Atemzug die Schlüsselfrau noch einmal erblickte. Sie lächelte, und in diesem Augenblick fand er Frieden.
Die Schlüsselfrau, Sinnbild für Wandel und Beständigkeit zugleich, wird mit jedem Anfang neu geboren. Sie schreitet unaufhaltsam ihren Weg, getragen von den Herzen jener, die den Mut aufbringen, den von ihr gereichten Schlüssel zu ergreifen, um Altes loszulassen und das Neue zu umarmen. Ihre Bestimmung liegt nicht in ihrer eigenen Erlösung, sondern darin, anderen zu helfen, ihren eigenen Weg zu finden und das Leben zu erneuern. So bleibt ihre Legende lebendig, wie die Ruine der Felsburg, ein stiller Zeuge der Geschichten, die die Zeit erzählt.
Audio Version: