Die langen Schatten der Mordbuche - eine Geschichte aus dem Melsunger Land

Dr. Hans Jürgen Groß
Zukunft gestalten: WEG- und Wandlungsbegleitung
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Die langen Schatten der Mordbuche - eine Geschichte aus dem Melsunger Land

Dr. Gross INFO
"Die Geschichte ist voll von Beweisen dafür,
dass eine Kraft, die sich selbst durch Leid erneuert,
eine Macht ist, die dem Hass standhalten kann."
Mahatma Gandhi


Die Sonne senkte sich sanft dem Westen zu. Ein sonniger Frühlingstag lag hinter ihnen. Der Marsch von Kassel entlang der Fulda nach Melsungen war leicht gewesen. Direkt an der alten steinernen Brücke in Melsungen lag einladend das Gasthaus „Zur Traube“. Hier kehrte die kleine Reisegesellschaft zur Rast ein. Das knisternde Feuer im Kamin warf flackernde Schatten an die Wände, und der Geruch von gebratenem Fleisch mischte sich mit dem Duft des frisch gebrauten Bieres. In der warmen Stube versammelten sich Reisende und Einheimische, die von ihren Abenteuern berichteten, während das Klirren von Gläsern den Raum erfüllte.

Valentin Hau, der Leinenhändler, saß mit seinen beiden Begleitern an einem Tisch in der Ecke. Mit einem Lächeln auf den Lippen lauschte er scheinbar den Geschichten der anderen. In Gedanken war er bereits bei seiner jungen Frau in der Rhön und dem Kind, das sie unter ihrem Herzen trug.

Seine Gedanken kreisten um die letzten Tage: "Stoffe für die Uniformen brauchten sie alle – egal, welche Fahne über dem Land weht." Das hatten die letzten Tage ihm gezeigt. Sein Geldbeutel, den nun alle als Hinterlassenschaft der verjagten Herrscher Portemonnaie nannten, war prall gefüllt. In seiner Tasche steckte eine goldene Uhr, die er sich am gestrigen Tag in Kassel gekauft hatte. Es ist gut, dass der Krieg jetzt ein Ende hat, so dachte er. Doch immer noch war viel fremdes Volk unterwegs: Franzosen, Italiener, Söldner der alten westphälischen Armee von Napoleons Bruder Jérôme. Aber auch Russen und Preußen, die das Land befreit und die alte Herrschaft wiederhergestellt hatten.

Valentin wusste, dass es klüger war, in Gesellschaft zu reisen als allein – vor allem jetzt, da er eine beträchtliche Summe Geld bei sich trug. Es schien ihm auch nur recht, dass er sich den beiden jungen Männern angeschlossen hatte, die er am Abend zuvor in einem Wirtshaus in Kassel getroffen hatte. Sie hatten behauptet, denselben Weg vor sich zu haben wie er. Der Weg bis in die Rhön war lang und beschwerlich, und ihm standen noch einige Tage Reise bevor. In dieser Zeit würde etwas Gesellschaft sicherlich willkommen sein. Er hoffte, dass sie zügig vorankommen würden und stellte sich vor, wie er daheim seinem Vater von seinen Erfolgen berichten würde.

Doch auch seine beiden Begleiter schienen es eilig zu haben. Sie schlugen vor, die Nacht nicht, wie ursprünglich geplant, in Melsungen zu verbringen, sondern den Abend und die heraufziehende Dämmerung zu nutzen, um weiter bis nach Malsfeld zu gehen. Die Sonne der Nacht, die etwa eine Woche nach dem vollen Mond stand, versprach den Wanderern genügend silbernes Licht am wolkenlosen Himmel. Ohne Argwohn stimmte Valentin dem Vorschlag zu.

In der warmen Stube des Gasthauses „Zur Traube“ schwang das Pendel des Schicksals in einem weit ausholenden Bogen und lenkte den Lauf der Ereignisse in eine neue, unvorhersehbare Richtung. – Ein letztes Bier, dann brachen sie auf.

In wortloser Stille schritten sie Seite an Seite in die Dämmerung hinein, dem dunklen Wald entgegen. „Ein Leben für unser Überleben …“, flüsterte einer der Männer dem anderen zu, leise genug, dass Valentin die Worte nicht vernehmen konnte.

Seit ihrem Aufbruch aus dem Gasthaus schien sich die Stimmung der Weggefährten verändert zu haben. Die Leichtigkeit des Tages war verloren. Die Gedanken seiner Begleiter schienen weit entfernt, gefangen in Erinnerungen, die nur ihnen gehörten. In ihren Augen spiegelten sich die Schatten vergangener Schlachten und der Verlust gefallener Brüder wider. Um die Stille zu durchbrechen, fragte Valentin: „Was treibt euch in diese Gegend?“

„Wir suchen nach einem neuen Anfang“, murmelte einer, seine Stimme kaum mehr als ein Hauch im Wind. „Nach all dem Schmerz … ist es schwer, den Sinn des Lebens wiederzufinden.“

Valentin spürte eine düstere Tiefe in den Seelen der Männer, eine Schwärze, die er nicht durchdringen konnte. „Wir alle haben in den letzten Jahren viel erlitten“, begann er zögernd, „aber die Hoffnung bleibt. Manchmal führt uns das Schicksal auf ungeahnte Pfade."

Ein Blick wechselte zwischen den beiden Männern, und Valentin sah den inneren Kampf in ihren Gesichtern aufflammen. „Hoffnung?“, wiederholte einer von ihnen, bitter und spöttisch. „Hoffnung ist etwas, das wir uns nicht leisten können. Manchmal ist ein Menschenleben nicht mehr wert als der Preis eines leeren Magens.“

Ein kalter Schauer durchlief Valentin. Welche Verzweiflung hielt diese Männer umschlungen? Ihre Herzen schienen erkaltet, ausgefüllt mit dem hallenden Schmerz des Krieges.

„Was weißt du schon von Not?“, zischte einer, seine Stimme schneidend wie die scharfe Klinge an seiner Seite. „Wir haben Blut vergossen, nur um zu überleben. Wenn das Messer erst gezogen ist, zählt ein Leben nichts mehr.“

Die Worte durchbohrten Valentins Seele und ließen ihn frösteln. Er war ein Kaufmann, ein Mann des Wortes und der Intuition. Stets auf der Suche nach einem lohnenden Geschäft schien er zu ahnen, was seine Kunden suchten und benötigten. Doch in diesem Moment fühlte es sich an, als hätte das Schicksal das Kommende bereits in Stein gemeißelt. Ein Impuls drängte ihn zur Flucht, fort von hier, aber eine unsichtbare Macht hielt ihn an Ort und Stelle.

Das Urteil war gesprochen. Die Ereignisse würden ihren Lauf nehmen, und der Gedanke an eine Alternative, an eine letzte Hoffnung, war nicht mehr von Bedeutung. Die Seelen der Männer waren verhärtet, vernarbt und verloren. Sie würden ihren Weg bis zum bitteren Ende gehen. – Er hatte sich in ihnen getäuscht.

Sein Herz schlug rasend, während die Schatten der Vergangenheit sich enger um ihn legten. Der Wind pfiff durch die kahlen Äste der alten Buche am Wildsberg, nahe Beiseförth, als Valentin Hau der tödliche Schlag traf. Es war Mittwoch, der 3. Mai 1815.

Der Frühling, der mit goldenen Blüten und sanftem Sonnenlicht begonnen hatte, wich dem Sommer, dessen Tage schwer und träge auf dem Land lagen. Die Felder wogten im Wind, doch für manche Herzen brachte die Wärme keinen Trost. In einem Haus in der Rhön wurde ein Kind geboren. Doch das Neugeborene empfing nicht die zärtlichen Hände seines Vaters, und das Lächeln der jungen Mutter trug den Schatten einer Trauer, die die Sonne nicht erreichen konnte. Der Sommer verglühte und machte Platz für den Herbst. Das Land färbte sich golden und rot, und in einem kalten Kerker hallten die Schreie eines Mannes wider, dessen Schuld nur in den Köpfen der Folterknechte bestand. Er kämpfte wie ein Baum im Sturm, doch unter den letzten Schlägen brach sein Wille.

In seiner Not, vom Schmerz zerfressen, nannte er die Namen zweier Männer, die nichts von seinem Leid wussten. Die Worte flossen wie ein eisiger Wind über seine Lippen, getragen von der Hoffnung, die Qual zu beenden. Und so sanken auch ihre Schicksale in die Kälte des kommenden Winters, während draußen das Laub fiel und die Welt stiller wurde.

Und wieder begann das Pendel des Schicksals, seine Richtung zu ändern.

Die wahren Mörder glaubten, mit ihrer Tat davongekommen zu sein. Doch ihre Beute brachte ihnen kein Glück. Ein Jahr nach der Tat kehrte einer der beiden in das Gasthaus in Kassel zurück, in dem er Valentin kennengelernt hatte. Er trug immer noch die Uhr des Ermordeten bei sich. Die Wirtin, eine scharfsinnige Frau, die von Valentins tragischem Tod gehört hatte, erkannte die Uhr wieder und alarmierte die Behörden. Der Mörder wurde gefasst, und sein Komplize bald darauf ebenfalls.

Die drei Unschuldigen, die derweil in einem Kasseler Gefängnis auf die Todesstrafe warteten, erhielten ihre Freiheit zurück. Doch die seelischen Wunden jener Zeit heilten nicht; sie hinterließen ein unsichtbares Erbe, das schwer auf den Seelen ihrer Kinder und Kindeskinder lastete. Es war die Last, die sie mit der Familie des ermordeten Leinenhändlers verband, wie ein leiser, nicht enden wollender Fluch.

Bei der Nachstellung des Verbrechens am Wildsberg gelang einem der beiden Mörder die Flucht. Er verschwand spurlos in der Dunkelheit des Waldes und wurde nie wieder gesehen. Manche erzählen, dass der Wald ihn verschluckt hat und sein Geist nun rastlos neben dem von Valentin umherirrt. Der andere Mörder wurde jedoch zum Tode verurteilt und kurz darauf durch das Schwert hingerichtet.

Der Baum, unter dem Valentin den Tod fand, wurde fortan als die "Mordbuche" bekannt. Doch sein Geist fand keine Ruhe. Wanderer berichteten von einem eisigen Schauer, der sie überkam, wenn sie die Buche passierten, und von einer Gestalt, die im Mondlicht unter den Ästen sichtbar wurde.

Selbst 200 Jahre nach der grausamen Tat lebt die Legende der Mordbuche weiter. Sie erinnert an die Grausamkeit des Verbrechens, an die Schrecken und die langen Schatten des Krieges, an Ungerechtigkeit und die unvorhersehbare Macht des Schicksals. Sie mahnt zur Vorsicht und Achtsamkeit im Leben. In den Nächten um Allerheiligen, dem alten Fest der Ahnen, das manche auch Samhain oder Halloween nennen, wenn die Geister der Verstorbenen wandeln, sollte man die Mordbuche meiden. Denn dann mag es sein, dass man verzweifelte Stimmen im Wind hört, die das Wort „Hoffnung“ flüstern. Und wer mit offenem Ohr lauscht, kann vielleicht das leise Echo eines Henkerschlags in der Dunkelheit des Waldes vernehmen.

Manchmal sind die Geister der Vergangenheit näher, als wir denken, und die Taten der Lebenden werfen lange, düstere Schatten in die Zukunft. Jede Begegnung birgt die Gefahr einer Fehleinschätzung. Man weiß nie, ob sich hinter einem freundlichen Lächeln ein Unheil verbirgt oder hinter einer düsteren Miene ein verborgener Schmerz. Entscheidungen werden in der Ungewissheit getroffen, und manchmal führen sie uns auf Pfade, deren Ausgang sich uns erst später enthüllt – oft, wenn es bereits zu spät ist.

Und so schwingt das Pendel des Schicksals weiter, zeichnet seine Bahnen, als wolle es eine endlose Lemniskate in den Raum schreiben.

© 2024 - Hans Jürgen Groß

Für weitere Informationen, siehe auch
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