Auf der Suche nach dem wahren Selbst, oder: Der Schatz der Ahnen
Veröffentlicht von Hans Jürgen Groß in Sinnhaftes und Geschichten · Donnerstag 05 Dez 2024 · 4:00
Tags: Märchen, Sage, Fantasy, Selbstfindung, Gier, Ahnen, innere, Ruhe, Moralische, Geschichte, Volksmärchen, Tradition, Mythologie, Weibliche, Protagonisten, Transformatio, n, Heiligenberg, Gensungen, Melsungen, Felsberg, Melsunger, Land, Allerheiligen, weiße, Frau
Tags: Märchen, Sage, Fantasy, Selbstfindung, Gier, Ahnen, innere, Ruhe, Moralische, Geschichte, Volksmärchen, Tradition, Mythologie, Weibliche, Protagonisten, Transformatio, n, Heiligenberg, Gensungen, Melsungen, Felsberg, Melsunger, Land, Allerheiligen, weiße, Frau
Es
waren einmal zwei junge Frauen, gefangen im eintönigen Dasein als
Mägde, deren Seelen sich nach einem anderen, erhabeneren Leben
dürsteten. Ihr Herz sehnte sich nach mehr, als ihr jetziges
Schicksal ihnen zu bieten vermochte. Selbst die Aussicht, einst
Ehefrau und Mutter zu sein, erfüllte sie nicht mit Freude, sondern
mit Unbehagen. Sie begehrten Einfluss und Anerkennung, träumten
davon, vielleicht einst in die Annalen der Geschichte einzugehen.
An
einem freien Herbstnachmittag, kurz vor Allerheiligen, begaben sich
die beiden auf eine Wanderung zum Heiligenberg hinauf. Während sie
den beschwerlichen Pfad erklommen, teilten sie ihre tiefsten
Sehnsüchte und Träume und malten sich aus, wie ihr Leben wäre,
wenn sie alles erreichen könnten, was ihr Herz begehrte.
Als
sie den Gipfel des Berges erreichten, erblickten sie aus der Ferne
eine Gestalt, die in ein weißes Gewand gehüllt war und ihnen
zuwinkte.
„Kommt
heran, steigt empor, euer Glück wartet auf euch“, rief sie mit
einer Stimme, die wie ein Flüstern des Windes klang. Die beiden
Mädchen sahen sich an. Die Erscheinung schien nicht von dieser Welt
zu sein und erfüllte ihre Herzen mit einer Mischung aus Furcht und
Faszination. Doch dann fassten sie Mut, reichten sich die Hände und
stiegen zu der weißgewandten Gestalt hinauf.
Die
Frau, deren Erscheinung so mystisch war wie der Nebel des frühen
Morgens, lud die beiden ein, ihr in die verborgenen Tiefen des Berges
zu folgen. Sie versprach ihnen, dass dort ein Schatz auf sie warte.
Mit
einer einladenden Geste führte sie die beiden durch ein von Efeu
überwuchertes, schweres eisernes Tor in ein verborgenes Gewölbe im
Berg. Der Raum war erfüllt von einem sanften, unwirklichen Licht,
das von einer unbekannten Quelle ausging und sich in dem Gold und
Silber spiegelte, das in unermesslicher Fülle im Raum verteilt lag.
Die weiße Frau erlaubte den Mädchen, sich von den Schätzen zu
nehmen, so viel sie wollten.
Die
eine, die stets von einem Leben in Reichtum geträumt hatte, stürzte
sich auf den Schatz. Gierig füllte sie ihre Kleider mit Gold und
Silber, bis sie kaum noch gehen konnte.
Die
andere, die sich stets nach einem Leben in Frieden und Harmonie ohne
Zwänge gesehnt hatte, blieb zurück. In den Schatten an der Wand,
die das goldene Licht dort warf, erkannte sie die Gestalt ihrer
verstorbenen Großmutter wieder. Hinter ihrer Großmutter erblickte
sie weitere Frauen, die sich wie Ahnengeister aufreihten. „Vergiss
das Wesentliche nicht“, warnte die Großmutter das Mädchen.
Doch
ebenso wie das eine Mädchen von ihrer Gier gefangen war und immer
mehr Gold besitzen wollte, schien das andere Mädchen in der
Schattenwelt gefangen zu sein.
Die
Großmutter mahnte noch einmal: „Vergiss das Wesentliche nicht.“
Da schreckte das Mädchen auf und bemerkte, wie sich plötzlich das
Tor zu schließen begann. Sie ergriff die Hand ihrer Freundin und zog
sie mit sich aus dem Gewölbe heraus. Doch die Kleider der Freundin
waren vom Gold beschwert und das Mädchen wurde von der schweren Tür
getroffen und verlor dabei ihren Fuß.
Mit
Mühe schafften es die beiden den Berg hinab. Das Mädchen mit dem
fehlenden Fuß starb noch in derselben Nacht. Die andere fiel in
einen Zustand, den die Menschen für Wahnsinn hielten.
Die
Hinterbliebenen kauften mit dem Gold, das das tote Mädchen aus dem
Berg mitgebracht hatte, ein Stück Land und nannten es „das
Mägdestück“. So brachte der kurze Reichtum der unglücklichen
Magd ihr die Unsterblichkeit in dieser Geschichte. Und noch heute, so
wird berichtet, kann man in nebligen Novembernächten eine
schmerzvoll klagende junge Frau durch die Straßen von Gensungen
humpeln sehen.
Das
andere Mädchen wurde von ihren Angehörigen in ein Kloster gebracht,
das sich am Fuße des Heiligenbergs befand.
Im
Kloster fand das Mädchen schließlich Heilung. Sie lernte, die
Schatten zu deuten, die ihre Träume in der Nacht hervorbrachten. Sie
fand inneren Frieden und konnte durch ihr selbst erlebtes Martyrium
anderen Menschen in ihrem Schmerz und auf ihrem Weg zur Heilung
helfen.
Manche
Menschen sahen das Mädchen, das nunmehr eine alte Frau geworden war,
oft auf dem Gipfel des Heiligenbergs sitzen. Sie war allein und
schweigsam, aber in ihren Augen lag ein tiefer Frieden.
Sollte
euch selbst einmal ein Schatz zufallen, so bedenkt, dass dessen
Besitz seinen Preis von euch fordern wird. Das Wesentliche, der
Schlüssel zum Glück, liegt darin, das richtige Maß im
Gleichgewicht zu finden.
Für weitere Infos, siehe auch:
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